Von der Wesenheit einer Waldorfschule

Zur Geschichte der Wandsbeker Schule

Hartwig Schiller
Zur Einweihung des neuen Schulgebäudes im März 1985

Eine Schule hat mit den Kräften der Kindheit und Jugend zu tun. Dadurch ist sie auf besondere Weise mit dem Wesen der Entwicklung verbunden. Lebendige Entwicklung das ist das Ethos, das insbesondere auch die Lebensstimmung der Waldorfschule durchzieht. Dies begegnet einem nicht nur in der Arbeit der Lehrer mit den Kindern. Gerade im Verständnis und Engagement der Eltern für diese Arbeit liegt eine konstituierende Grundlage für das Lebensgepräge der Waldorfschulen. Besonders deutlich trat das in den vergangenen 15 Jahren mit ihren zahlreichen Neugründungen hervor, die ja erst durch die gemeinschaftliche Initiative von Eltern und Lehrern möglich wurden. Dies hat, auf das Gemeinsame der Waldorfschulen gesehen, eine bestimmte Entwicklung gebracht. Viele Schulen befinden sich im Aufbau, und was man pädagogisch im Schulzimmer tut, das findet sich auch im Äußeren der Schulbewegung - Erziehung im Aufbau. Dadurch konnte aber auch das Interesse an einer alten Schule besonders hervortreten. Schließlich stellt etwas "Altes", "Fertiges" einen willkommenen Gegenstand der Orientierung für etwas im Aufbau befindliches "Offenes" dar. Die Frage lautet dann: "Wie macht ihr dies, wie macht ihr das?" Einiges wird man als willkommene Anregung begrüßen, an anderem wird man klar den unterschiedlichen eigenen Ansatz entdecken. Die alte Schule also als Bezugspunkt, eigene Entwicklung zu bestimmen. Auf der anderen Seite ist es so, daß beim Kennenlernen von alten Schulen bemerkt werden kann, daß sie sich untereinander in außerordentlich signifikanter Weise unterscheiden. Vom ausgeprägten Modell einer Oberstufenpädagogik über Fragen der allgemeinen Schulordnung bis zur atmosphärischen Gestimmtheit gibt es eklatante Unterschiede, die auch für die betroffenen alten Schulen die Frage aufrufen nach dem woher und warum? Diese Frage zielt auf das Besondere der eigenen Schulprägung und versucht, das Wesenhafte des Schulortes zu erfassen. Diese Bemühung ist dann auch für die Betroffenen von begründetem Interesse, kann sie doch Aufklärung über die Bedingungen, Verknüpfungen und Möglichkeiten der eigenen Arbeit liefern. Eine andere bedeutsame Frage schließt sich an: Was ist es, das die eigentümlichen Züge einer bestimmten Schule ausmacht? Ist es eigentlich berechtigt, von Schulindividualitäten zu sprechen?

Gegründet wurde die Schule in Wandsbek im Jahre 1922, und obwohl man sie seither als die Hamburger Schule bezeichnet, war diese Bezeichnung im strengen Sinne zunächst unzutreffend. Der Gründungstypus erinnert stark an die Stuttgarter Geschehnisse. Hans Pohlmann, ein langjährig mit der Anthroposophie verbundener Fabrikant, greift die Erziehungsgedanken Rudolf Steiners auf und möchte eine Schulgründung ermöglichen. Es finden vorbereitende Gespräche statt. Hans Pohlmann verpflichtet sich, Schulgrundstück und Gebäude zur Verfügung zu stellen sowie zunächst auch die Lehrergehälter zu garantieren. Daraufhin stimmt Rudolf Steiner der Gründung zu. Der Schulort ist durch die Gegebenheiten bestimmt. Hans Pohlmann selbst wohnt in Wandsbek, hat für seine Fabrikation bautechnischer Erzeugnisse dort gerade einen neuen Standort gefunden, der gleichzeitig persönlicher Wohnort sein soll, und kann so seine geräumte Villa in der Jüthornstraße 4a zur Verfügung stellen. Die Bezeichnung "Hamburger Schule" ist insofern unzutreffend, als Wandsbek damals noch zu Preußen gehörte und vor den Stadttoren Hamburgs lag. Als "Gründungslehrer" beruft Rudolf Steiner den thüringischen Landschulrat Max Kändler, der Anfang des Jahrhunderts durch Michael Bauer zur Anthroposophie gekommen war und zunächst unter einziger Mitarbeit seiner Tochter Ilse mit dem Unterricht in der 1. Klasse beginnt. In den beiden folgenden Jahren wurden von Rudolf Steiner dann Heinz Müller und Otto Altemüller für die 2. und 3. Klasse nach Wandsbek empfohlen. Es mag von Interesse sein, einen Augenblick bei der Lehrerfindung zu verweilen. Einerseits gibt ihre Situation etwas vom Grundlegenden der Entscheidung, Waldorflehrer zu werden, wieder, andererseits schildert sie etwas aus der Pionierzeit der Schulbewegung.

Max Kändler hatte 1922 das 50. Lebensjahr überschritten. Er brachte Frau und zwei erwachsene Kinder mit, und in den unsicheren Nachkriegsjahren bedeutete eine Arbeit in der neuen Schule den Verzicht auf die Pension des Schulrates. Die Waldorfschule wurde für ihn also in mehrfacher Beziehung zur tiefgreifenden Existenzfrage. Auch das Berufsbild änderte sich für ihn grundlegend. Aus der einflußreichen, den pädagogischen Stil für ein ganzes Gebiet umliegender Schulen prägenden Arbeit des Schulrates wurde eine Klassenlehrertätigkeit, die für den Anfang den Umgang mit gerade neun Kindern bedeutete. Vorbei war es mit den Fahrten über Land, sommers in der Kutsche und im Schlitten winters. Verändert war auch die Landschaft. Aus den "sagenumwobenen Wäldern" um Greiz, einem Residenzstädtchen des Vogtlandes "mit großem Park, Parksee und auf dem Berge gelegenen Schloß"1 ging es in die Gegend an der Wandse, "damals ein richtiges Armenviertel" : "enge Straßen mit kleinen Fachwerkhäuschen, umgeben von Gärten. Wer die Bleicherstraße (später: Kattunbleiche) in Richtung Friedrichsberg ging, kam an dem Zigeuner-Viertel vorbei; sie wohnten auf den Hinterhöfen. In unmittelbarer Nähe war die Grenze zur Hansestadt Hamburg, markiert durch eine Linie von Pflastersteinen auf der Mitte der Hammerstraße, drüben hamburgisches, hüben schleswig-holsteinisches Gebiet. In der Nähe der Schule lag ein alter Juden- Friedhof. Das bessere Viertel Wandsbek lag in südlicher Richtung, jenseits des Marktplatzes."2 Das war der künftige Schulort, der für so viele Jahrzehnte die Heimat der Schule werden sollte. Aus der anerkannten Stellung in Thüringen, von den betreuten Lehrern in aufrichtiger Zuneigung geachtet und als einziger "Prominenter" auch während der Revolutionszeit 1918 nicht festgenommen, während des Krieges aus manchem Schulgarten mit dem Angebot fürsorglicher Naturalversorgung bedacht, kam Max Kändler in Lebensverhältnisse, die zu dem Gewohnten in heftigem Kontrast standen. Von den damaligen Umständen hat seine Tochter eine sehr anschauliche Schilderung gegeben:

"Etwa März 1922 konnten wir in die Pohlmann-Villa übersiedeln mit je einem Bett und einem Stuhl für Vater, meinen Bruder, der gleichzeitig seine Arbeit in der Hamburger Christengemeinschaft begann und mich. Wegen der Geld-Inflation konnten wir unsere Möbel aus Greiz nicht kommen lassen. Meiner Mutter hätten wir solche Provisorien nicht zumuten können, wir ließen sie noch in Thüringen bei Verwandten. In die Küche holten wir Gartenmöbel, begannen dann mit dem Einrichten der Schulräume, unterstützt von gewesenen Wandervögeln. Der halbe Garten wurde in einen Schulhof verwandelt.
Unser aller Verpflegung bestand aus dem wenigen, was man damals noch für schnell auszugebendes Geld erwischte. Der Ofen wurde mit Sägespänen geheizt, die wir unter Anleitung von Herrn Pohlmann in breite Röhren stampften und durchglimmen ließen. Das ergab für ein paar Stunden Wärme. Aber gelegentlich froren die Wasserrohre ein, da fand man sich dann nachts bei Rohrbrüchen im Treppenhaus wieder zusammen. Unseren Humor verloren wir aber trotzdem nicht!" 1

Der Weg Ilse Kändlers zur Waldorflehrerin war ein sehr ungewöhnlicher. Er hängt unmittelbar mit Rudolf Steiners Rat zusammen. Begegnet war sie ihm schon als fünfjähriges Kind, als sie ihm 1908 zusammen mit dem Bruder vorgestellt wurde. Dabei gab Rudolf Steiner den Geschwistern das Kindergebet: "Vom Kopf bis zum Fuß bin ich Gottes Bild." Außerdem erteilte er dem Vater den Rat, sie erst zwei Jahre später als üblich einzuschulen. Der Vater mußte dafür zu einer Formulierung greifen, die ihm, dem Kreisschulrat, das Entsprechende ermöglichte: er erklärte die Kinder für geistig zurückgeblieben.

Später, als es an die Schulgründung ging, erkundigte sich Rudolf Steiner beim Vater nach den Plänen der Geschwister. Dem Theologiestudium des Bruders, stimmte er befriedigt zu. Über Ilses Berufswünsche (sie wollte die Kunstgewerbeschule in München besuchen) war er jedoch nicht begeistert: "Er schlug meinen Vater auf dessen Frage hin vor, ich solle doch Eurhythmie studieren; es begänne ja bald eine Ausbildung durch Frau Lory Maier-Smits, da könne ich dazu kommen!"1

Als der Vater, wieder zu Hause, diese Pläne schließlich unterbreitete, war die Tochter: "entsetzt, daß ich einen Beruf - die Eurythmie - erlernen sollte, von der ich keinerlei Ahnung hatte. Mit viel gutem Zureden - ich war erst 16 Jahre alt - brachte man mich dahin, es wenigstens für vier Wochen mal zu versuchen. Lory Maier-Smits war ebenso entsetzt wie ich, da ich ja keinerlei Voraussetzungen mitbrachte. Mein Bruder half mir sehr, mich in alles hineinzufinden; von Anthroposophie hatte ich keine Ahnung. - Es dauerte nicht allzu lange, bis ich dann doch von der Eurythmie begeistert war."1

Ende 1921 fuhr sie mit dem Vater, der dort von Rudolf Steiner letzte Ratschläge vor Beginn der Schule holen wollte, nach Berlin. Dieser Besuch brachte für Ilse Kändler eine überraschende Wende, denn: "Dort bestimmte Rudolf Steiner, daß ich den Eurythmieunterricht erteilen sollte. Auf mein Erstaunen hin, daß ich mir das noch nicht zutraue (ich war eben 18 Jahre alt geworden), sondern lieber erst noch mal nach Dornach gehen und mich in der Eurythmie vervollkommnen wolle, meinte er: Dazu haben wir jetzt keine Zeit! - Auch trug er mir den Handarbeitsunterricht auf. Auf meine Erwiderung, daß ich das doch nicht gelernt hätte, meinte er augenzwinkernd: Sie wollten doch so gerne auf die Kunstgewerbeschule gehen! Auch das Malen sollte ich übernehmen. (Ich hatte während der Eurythmie-Ausbildung das Malen geschwänzt, weil es mir zu schwer schien!) Auch könne ich ja noch den Englischunterricht übernehmen! (Ich kannte nur so viel Englisch, wie man eben auf der Schule lernt, und da ich in Thüringen zur Schule gegangen war, brachte ich es mit einem thüringischen Akzent. Das bestätigen mir heute noch liebevoll meine alten Schüler.)
Rudolf Steiner merkte wohl, daß ich recht besorgt war ob all dieser Aufgaben, und meinte dann, für das Noch-nicht-Können müsse die Begeisterung stehen. Die hatten wir alle, die wir damals so verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen mußten. Mit guten Ratschlägen und Wünschen wurden wir Ende 1921 in Berlin entlassen."3

Der dritte mit der Entwicklung der Wandsbeker Schule in besonderer Weise verbundene Lehrer war schließlich Heinz Müller. Er war Rudolf Steiner früh begegnet und stammte aus dem Kreis derer, die den "Pädagogischen Jugendkurs" angeregt hatten. Auf einem der zahlreichen Arbeitstreffen dieser Gruppe anthroposophisch orientierter junger Freunde verspürte Müller plötzlich das drängende Gefühl, vorzeitig nach Jena zurückkehren zu müssen. Unter halsbrecherischen Manövern noch in den Zug gelangt, fand er schließlich zu Hause ein Telegramm vor, das eine sofortige Vorstellung als Lehrer in der Goetheschule, Wandsbek, erbat. Er wußte weder, daß es in Wandsbek seit 1922 eine Waldorfschule gab, noch wo dieser Ort lag.
Anfang 1923 hatte sich Rudolf Steiner bei Heinz Müller erkundigt, wie weit sein Pädagogikstudium fortgeschritten sei. An den erwarteten Abschluß Ostern 1923 schloß Heinz Müller sofort die Frage an, ob es dann möglich sei, in die Waldorfschulbewegung einzutreten. Das wurde freudig bejaht, die Frage nach einer Tätigkeit in Stuttgart allerdings ebenso heftig verneint. Dadurch entstand in Heinz Müller einige Unklarheit darüber, ob es sich um einen Hörfehler gehandelt habe, und wie sich seine Zukunft weiter gestalten könne. Das Telegramm und der anschließende Besuch in Wandsbek brachten dann Klarheit. Es war für Heinz Müller zunächst einigermaßen überraschend, die Schule sozusagen im Wohnhaus Max Kändlers zu finden. Unkonventionelles gab es in dieser Zeit nicht wenig.

"Da stand ich also vor einer Art Villa, einem Gartenhaus im Stile, wie man etwa um die Jahrhundertwende gebaut hatte. Ich kam an die Tür, und da war jemand, eine verhältnismäßig kleine, einfach angezogene Frau, damit beschäftigt, die Eingangsstufen zu scheuern und den Vorraum schön sauber zu machen. Ich fragte sie, ob hier Dr. Kändler wohne. "Ja", sagte sie, "mein Mann ist oben!" Als ich die Verhältnisse später übersah, wußte ich: Um einen Dienst an der Schule zu leisten, spielte sie Reinemachefrau, wenn der Unterricht beendet war. - Ich trat herein in einen kleinen Flur, von dem aus die Treppe nach oben ging. Oben konnte man über dem Treppengeländer zwei vergnügte Köpfe sehen, einen jungen Menschen, vielleicht einen Studenten und ein junges Mädchen, so etwa 18 Jahre alt. Die beiden mußten mich schon haben kommen sehen, mich bunten Wandervogel. Als ich heraufkam, prusteten sie los und verschwanden eilig in dem dahinterliegenden Zimmer. Nun, dort klopfte ich, dort würde man sich wohl erkundigen können. Heraus guckte "Thom" Kändler, der damals schon Priester der Christengemeinschaft war, wie sich später herausstellte. "Das Arbeitszimmer meines Vaters ist hier nebenan, bitte gehen Sie da herein. Sind Sie vielleicht der neue Lehrer für unsere Schule?" - "Ja, vielleicht!" - Wieder hörte man drinnen das Glucksen und Lachen von Ilse Kändler, seiner Schwester, wie ich dann erfuhr, und er verschwand, sich das Lachen verbeißend, schleunigst wieder hinter der Tür. - Dr. Kändler war eine wirklich imponierende Erscheinung. Er hatte leicht gelocktes, bereits graumeliertes Haar und ein gütiges, sinnendes Auge. Er war ein Mensch, zu dem man sofort das allergrößte Vertrauen in sich spürte. Er reichte mir die Hand sehr freundlich, und ich war überrascht, wie zart gegliedert diese war, wie auch die ganze Gestalt. Er rief seine Frau herauf, stellte mich ihr dann vor, und wir saßen in kürzester Zeit zu viert gemeinsam am Familientisch. "Nun", begann er, "will ich Ihnen zunächst erzählen, wie ich darauf gekommen bin, Ihnen das Telegramm zu schicken. Mir hatte Dr. Steiner gesagt bei der Delegiertenversammlung, bei der Sie ja auch waren - denn ich kann mich noch ganz gut erinnern, daß ich Sie in Ihrer bunten Kluft da oben gesehen habe - er würde mir zu Ostern jemanden nennen, der an unsere Schule kommen könne." - Weil nun aber die Nachricht immer ausgeblieben sei, habe er sich auf die Bahn gesetzt und sei nach Stuttgart gefahren, um Rudolf Steiner selbst zu fragen, und der hätte gesagt: "Dann schreiben Sie einmal" - dabei hätte er in sein Notizbuch gesehen - "an Heinz Müller, Jena, Lutherstraße 2,II." Dr. Kändler habe sich bedankt, aber dann zweifelnd gefragt, an wen er sich denn wenden solle, wenn der Herr Müller nicht kommen könne. Es sei ja schließlich schon ziemlich spät, in Kürze würde das neue Schuljahr beginnen. Rudolf Steiner, als ob er es nicht gehört hätte, was die Frage bedeutete, antwortete: "Schreiben Sie nur an Heinz Müller, Jena, Lutherstraße 2." - "Ja, Herr Doktor, das habe ich wohl verstanden, aber an wen soll ich mich wenden, wenn der nicht kann?" - "Nun, so schreiben Sie doch erst einmal an ihn!" Und da sei ihm dann nichts anderes übrig geblieben, als sich an mich zu wenden, und er glaube, Rudolf Steiner werde gewußt haben, warum er so eindrücklich mich hierher geschickt habe, und ob ich wohl zusagen würde. Dann aber drängte sich mir die Frage auf: "Wie kommt es eigentlich, daß hier eine Schule existiert, wo ist die?" - "In der Schule befinden Sie sich!" - Ich sagte: "Hier im Hause?" - "Ja, unten sind drei Räume, die können wir uns nachher gleich ansehen!" Da es sich aber herausstellte, daß ich nichts über die Schulgründung wußte, kamen wir erst einmal darüber ins Gespräch. So erfuhr ich, daß der Bauingenieur Hans Pohlmann, stark beeinflußt von seiner Gattin Emmy Pohlmann, sich Rudolf Steiner gegenüber verpflichtet hatte, für die ersten Jahre ein Schulhaus (seine private Villa) für zwei bis drei Klassen zur Verfügung zu stellen. Außerdem hatte er die Lehrergehälter für vier Kollegen innerhalb der nächsten drei Jahre garantiert und darüber hinaus sich verpflichtet, ein neues Schulhaus zu errichten, in welchem acht Volksschulklassen, ein Sing- und ein Eurythmiesaal von vornherein ausgebaut sein sollten. Das Gelände sollte so umfangreich erstanden werden, daß ein weiterer Aufbau der Schule bis zur 13. Klasse möglich sein konnte. - Nun gingen wir aber erst einmal hinunter, um die Schulräume anzusehen. In einem Raum hatte Dr. Kändler seine Klasse von immerhin schon etwas über 20 Kindern. Hier gab er seinen Hauptunterricht, daneben schlecht und recht, wie er meinte, den Französisch-Unterricht, besondere Freude hätte ihm auch der freie christliche Religionsunterricht und der Musikunterricht bereitet. Und damit gingen wir in einen angrenzenden größeren Raum, der von dem Klassenzimmer durch eine Schiebetür getrennt war. Hier standen Klavier und Harmonium für den Musik- und Eurythmieunterricht, und hier hielt Dr. Kändler die Sonntagshandlung für die Kinder, die am freien Religionsunterricht teilnahmen. Auch die neugegründete Christengemeinschaft, so hörte ich, hielt hier ihre ersten Gottesdienste, solange die Gemeinde noch klein war. Dafür hatte Herr Pohlmann einen Altar gestiftet, und so konnte man diesen Sing-, Eurythmie-Saal mit Hilfe einiger schöngefärbter Stoffe, einer Altardecke, dem siebenarmigen Leuchter, dem Christusbild von Leonardo da Vinci in Kürze zu einem Kultraum verwandeln, in dem die Kinder andachtsvoll den Worten des die Handlung haltenden Lehrers oder die Gemeindemitglieder denen des Priesters lauschen konnten. Um dann wieder für den Unterricht Platz zu schaffen, mußten die nicht benötigten Dinge in einem Schuppen im Garten abgestellt werden. So war also alles provisorisch, aber doch auch sehr schön! Dann wurde mir noch mein zukünftiges Klassenzimmer gezeigt. Es war nur klein, aber ich würde auch vorerst nur acht Kinder zu betreuen haben."4

Man kann diesem Bericht entnehmen, wie sorgfältig Rudolf Steiner die Existenzbedingungen der Schule prüfte und sicherte, bevor er ihrer Gründung zustimmte. Und dennoch wird man kaum die Schwierigkeiten überschätzen können, die ihr weiterer Aufbau mit sich brachte. So waren es mit Otto Altemüller schließlich nur vier Lehrer, die durch Rudolf Steiner an die Schule gewiesen worden waren. Er selber hat die Schule nie besuchen können. Es gab keine Konferenzen, keine Elternabende und keine Bildung der Schulgemeinschaft unter seiner Obhut. Als er, um Ostern 1922 (er hielt sich zu einem Vortrag in Hamburg auf), die Schule einweihen und eröffnen wollte, blieb die Genehmigung aus Berlin aus, man mußte auf Ende Mai verschieben und so auf Rudolf Steiners persönliche Anwesenheit verzichten. Zwar konnte bei jeder sich bietenden Gelegenheit Rat von ihm eingeholt werden; Rudolf Steiner lernte die Namen der Kinder kennen, erhielt Berichte über ihre Entwicklung, Fragen konnten gestellt werden. Er gab vor dem Hintergrund seiner Vorträge zur Begründung der Stuttgarter Waldorfschule (Allgemeine Menschenkunde) manchen direkten Hinweis für das einzelne Problem. Auf das Ganze gesehen mußten solche Gelegenheiten aber doch selten bleiben und den Beteiligten die gestellte Aufgabe unermeßlich erscheinen lassen: eine Erneuerung der Pädagogik aus spirituellem Welterfassen, ein Lebendig-Werden der Wissenschaft, der Kunst, der Religion durch Geisteswissenschaft. Dies zu beginnen, hatte Rudolf Steiner der Schule in einem Spruch auf besondere Weise eingeschrieben:

Aus dem Ernst der Zeit
Muß geboren werden
Der Mut zur Tat.
Gebt dem Unterricht,
Was der Geist euch gibt,
Und ihr befreit die Menschheit
Von dem Alpdruck,
Der auf ihr lastet durch
Den Materialismus.

Dem verständlichen Zweifel derjenigen entgegen, die dies aus ihren vermeintlich schwachen Kräften beginnen wollten, hatte Rudolf Steiner stets geantwortet, die geistige Welt nähme Begeisterung stellvertretend für Können. Diese Begeisterung mußte allerdings noch über manche Schwierigkeit hinweghelfen. Die Schulgenehmigung ließ auf sich warten. Zuletzt schickte Max Kändler ein Telegramm nach Berlin: "Da ich keine gegenteilige Nachricht bekommen habe, nehme ich an, daß die Schule genehmigt ist. Wir beginnen am 22. Mai 1922." Zweifellos ein Risiko. Die Genehmigung traf dann aber doch ein. Allerdings erst, nachdem der Unterricht schon begonnen hatte.

Es gab keinerlei staatliche Unterstützung. Mit dem Einsetzen der Inflation verschärfte sich die finanzielle Situation. "Wenn die Kinder Schulgeld brachten, sausten Heinz Müller oder ich los, um es am gleichen Tag noch in Lebensmittel (hauptsächlich Suppenwürfel) umzusetzen. Das Geld entwertete sich schon bis zum nächsten Tag."1 Dies wurde jedoch offenbar sogar mit einem gewissen Humor ertragen, und es gab Material her für eine besonders kostbare Seite des Schullebens. Das Karge, das da war, wurde geteilt mit den Kindern, die man vom entfernten Bahnhof abholte, nach Schulschluß zurückbrachte und die gern länger blieben, nicht nur um des Tellers Suppe willen, der dann mit ihnen geteilt wurde. Auf eine baldige Verbesserung der Situation konnte man kaum hoffen, dazu trug neben der allgemeinwirtschaftlichen Situation auch die Zahl der Schüleranmeldungen nicht bei.
War auch die Kändler-Klasse seit der Eröffnung mit neun Schülern im Laufe des ersten Jahres auf über 20 Schüler angewachsen, so gab es für die neue 1. Klasse wiederum nur acht Anmeldungen. Die Gründe dafür lagen nicht ausschließlich im Unverständnis einer außenstehenden Öffentlichkeit. Schon die näheren Freunde zu erreichen war nicht einfach, denn auch die Freunde der Anthroposophischen Gesellschaft waren mit dem Gedanken der Waldorfschule noch kaum vertraut.

"Wir konnten zuerst nur mit neun Kindern beginnen, weil der Hamburger Zweig uns keine Unterstützung gab, ja sogar den Eltern abriet, uns ihre Kinder zu schicken! . .. Weil für die 2. Klasse nur wenige Anmeldungen kamen, faßten Heinz Müller und ich den Plan, vor dem Zweighaus Prospekte zu verteilen. Da wir für die vielen Kilometer Fahrt dorthin kein Straßenbahngeld hatten, mußten wir zu Fuß gehen."5

Pionierarbeit gab es also auch auf unerwartetem Felde zu leisten. Aber man teilte das Schicksal vieler anthroposophischer Einrichtungen, bevor Rudolf Steiner Weihnachten 1923 völlig neue Impulse für die gemeinsame Arbeit setzte. In Hamburg gab es eine Reihe anthroposophischer Zweige. Und wie an anderem Orte war das Bedürfnis nach einer verbindenden Zusammenarbeit ziemlich unentwickelt. Der in Wandsbek bestehende Zweig wurde von Hans Pohlmann und Max Kändler geleitet. Vielfältiger wurde dieses Bild noch, als Heinz Müller nach Hamburg kam und einen Zweig der Freien Anthroposophischen Gesellschaft mitbegründete.
Auch die Zusammenarbeit mit der Stuttgarter Schule mußte noch gefunden werden. Das Bedürfnis nach pädagogischer Hilfe war groß, der Zugang zu den grundlegenden Angaben Rudolf Steiners nicht von vornherein offen.

"Wir mußten uns ja sehr vieles selbst erarbeiten; denn auch von der Stuttgarter Waldorfschule bekamen wir anfangs nur wenig Hilfe, bis Rudolf Steiner nachdrücklich dafür sorgte, daß auch uns alle seine pädagogischen Angaben und Kurse zur Verfügung gestellt wurden, damit er nicht alles zweimal geben mußte.5

Die Schule gedieh aber doch rasch. Schon 1924 war die Mitgliedszahl im Schulverein (die keineswegs deckungsgleich war mit der Anzahl der Eltern) auf 250 angewachsen. In der Bleicherstraße (Kattunbleiche) wurde nahe dem zukünftigen Schulgrundstück ein Erweiterungsbau zur Villa Pohlmann hinzuerworben. So war zunächst weiterer Schulraum geschaffen. Ein Versuch, für die Schule ein Grundstück auf Hamburger Gebiet zu bekommen, scheiterte allerdings. Nach dem Krieg herrschte im "roten Hamburg" kaum das politisch-geistige Klima, eine "Privatschule", noch dazu eine von Anthroposophen geführte, in die Stadt zu holen. So wurden diesbezügliche Versuche aufgegeben. Man beschloß, in Wandsbek zu bleiben, und Hans Pohlmann kaufte im März 1924 ein ca. 5000 m2 großes Gelände in der Bleicherstraße, auf dem schon 1925 das neue Schulgebäude errichtet war. Es enthielt zehn Klassen- und entsprechende Fachräume sowie eine Aula mit ca. 400 Sitzplätzen, außerdem zwei Wohnungen - eine für den Hausmeister, eine für den Schulleiter Max Kändler. 1928 und 1929/30 wurden Erweiterungsbauten angefügt mit weiteren Klassenräumen, einer Turnhalle, Fachräumen und Schulküche. 1930 hatte die Schule 430 Schüler und 17 Lehrkräfte.6

So hatte die Schule im Aufbau eine glückliche Entwicklung genommen. Auch die pädagogische Arbeit gestaltete sich intensiv und fruchtbar. Der Kontakt zu den Eltern brachte eine gute Zusammenarbeit. Schon damals wirkten Eltern entscheidend am Ausbau des neuen Schulgebäudes mit.

"Viele treue Helfer schufen damals in selbstloser Hilfsbereitschaft die erste Inneneinrichtung."7

Und doch wuchs untergründig eine Problematik, die den Beteiligten zunächst unbemerkt blieb und dann unlösbar wurde. Gerade die Wandsbeker Kollegen hatten tief die Worte Rudolf Steiners auf sich bezogen, die Waldorfschule dürfe keine Winkelschule werden, weltmännischer Geist müsse in ihr leben. Die äußere Entwicklung schien diese Gefahr zu bannen. Immer stärker und sichtbarer konnte die Schule sich in die Welt stellen. Damit erfüll sich, was an kaum aussprechbaren Wünschen die Gründer für dieses Werk erhofft hatten. Und doch wurde der Augenblick verpaßt, in dem diese Entwicklung ihren Niederschlag in den Lebensformen der Schulgemeinschaft hätte finden müssen.

Den Augenblick der Gründung konnte man sich kaum schutzbedürftiger vorstellen: Ein Mensch, kein Lehrer, dem Beispiel Emil Molts folgend, der, von den Erziehungsideen Rudolf Steiners berührt, eine solche Schule stiften möchte. Ein anderer, Lehrer, der aus seiner gesicherten Lebensstellung heraustritt, um das Ungewisse zu wagen, das Neue zu beginnen. Als einziger Lehrer, unterstützt nur von der Tochter, eröffnet er mit neun Kindern die Schule. Widerstände zuhauf stellen sich entgegen, nicht nur die erwarteten Widerstände des Nichtverstehens und der Gegnerschaft. Auch die Widerstände der eigenen Unzulänglichkeiten, mit denen die Freunde kämpfen. Diesem Werk gegenüber entsteht die Sorge der Schutzbedürftigkeit und einer besonderen Verantwortung. Darum auch wird mit Billigung Rudolf Steiners die Einrichtung des Schulvereins zunächst in zweifacher Weise vorgenommen. Innerhalb des allgemeinen Schulvereins besteht ein kleiner Gründerkreis, der in Fragen der Vereinsführung alleiniges Stimmrecht besitzt und den Mitgliedern des allgemeinen Vereines nur beratende Funktion gibt. Dieses Modell soll vor allem Schutz gegenüber mißbräuchlicher Einwirkung äußerer Kräfte gewährleisten. Max Kändler machte dazu auf der Mitgliederversammlung am 11. November 1930 folgende Ausführungen:

"Der Schulverein muß sich bewußt bleiben, daß er nicht ohne Grund statt der Wahlen die Ergänzung in seinem Statut festgelegt hat und daß dieses Statut nicht einen Verein mit allgemeinem, gleichem Stimmrecht, sondern einen Verein mit beratenden Mitgliedern, dafür aber einen Verein mit einem stimmberechtigten Gründerkreis innerhalb des Gesamtvereins bilden wollte. Und das alles aus ernster Überlegung und auf Grund ausdrücklicher Zustimmung von Dr. Rudolf Steiner. Daß bei einer geistigen Institution, einer anthroposophisch orientierten Schule so etwas nicht ohne Belang ist, kann aus folgenden Beispielen hervorgehen: Nehmen wir an, es hat irgendeine Gemeinschaft, eine religiöse oder politische, ein starkes Interesse daran, eine wohl-fundierte und wohlfunktionierende Goetheschule eines schönen Tages nach Unterricht, Erziehung und Gesinnung in ihre eigene Art und Richtung hineinzulenken oder auch auffliegen zu lassen, also aufzulösen. Mit Leichtigkeit wird sie die nötige Anzahl von Mitgliedern für je einen Monatsbeitrag von RM 2,00 in den Verein bringen und dort durch Abstimmung alles nach Wunsch gestalten können. Und der Sinn der Goetheschule wäre dahin.
Oder aber, es könnte eine Anzahl Mitglieder eines stimmberechtigten Schulvereins, vielleicht auch eine Anzahl Lehrkräfte, die feste Überzeugung haben: Zu einer begeisterten und begeisternden Bewegung in der Steiner-Pädagogik gehört, daß die in Hamburg-Wandsbek begründete Goetheschule ins Zentrum von Hamburg gehört, oder, daß noch ohne Rücksicht auf Geschichte und Lebensbedingungen der Goetheschule in Wandsbek eine zweite Schule begründet wird, also ohne daß schon die Sicherstellung auf der einen Seite und die Bedürfnisfrage auf der anderen Seite objektiv gegeben sind. Auch in diesem Falle ist es gut, wenn der Goetheschulverein seiner Verpflichtung getreu seinen Einfluß aktiviert, wenn das Statut nicht einem propagandistischen Zuzug von stimmberechtigten Mitgliedern das Tor zu dem Verein offen läßt. Ja, für diesen Fall ist es sogar nötig, daß der sogenannte Gründerverein bzw. Schulvorstand beim Ausscheiden von Gründermitgliedern selbst die Ergänzung sehr ernst nimmt, damit nicht der Bestand des Erreichten etwa illusorisch wird."8

In diesem Augenblick war die Entwicklung aber längst unaufhaltsam vorangeschritten. Die Gründung einer zweiten Schule im Hamburger Raum war in Vorbereitung, und ihre Existenz sollte sich als sehr fruchtbar erweisen. Die Motive für ihre Gründung lagen nicht nur in der Nachfrage. Natürlich kam aus dem hamburgischen Gebiet, besonders aus dem Westen der Stadt, eine bedeutende Anzahl von Schülern. Treibende Gründe lagen aber auch auf anderem Gebiet. Nicht alle neu hinzugetretenen Kollegen fanden durch die besondere Konstruktion des Gründervereins für ihre Initiative den Raum, den sie sich zur Entfaltung ihrer Kräfte wünschten. Das uns heute so gewohnte Bild differenzierter kollegialer Schulverwaltung war noch kaum entwickelt. Und was einerseits Dankbarkeit gegenüber dem Erreichten verlangte, verhinderte andererseits die Entwicklung der Schulgemeinschaft der Eltern und Lehrer zu der gemeinschaftlichen Trägerschaft, die der Waldorfschule als Ideal eingeschrieben ist.

So wurde die Rebellion unausweichlich. Und ebenso unverantwortlich, wie die Form, in der sie geschah - immerhin verließen vier Klassenlehrer mit großen Teilen ihrer Schülerschaft die Schule, um in Altona eine neue Schule zu gründen so nachvollziehbar ist der innere Notstand, aus dem sie hervorging. Den Hintergrund für die Härte der Auseinandersetzung bildete auch die Entwicklung innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft. Was damals als Kluft durch die Gesellschaft ging, konnte nicht außerhalb der Schule bleiben und erschwerte das Zusammenkommen im Gespräch zusätzlich.

In der Folge erwiesen sich beide Schulen als lebensfähig. Zeit, um in allmählicher Verständigung Wege der Annäherung und Zusammenarbeit zu finden, blieb ihnen allerdings nicht. Der Nationalsozialismus zog herauf und mit ihm die Verbotszeit. Die Vorgänge können in den Aufsätzen von Leber/Leist9 und Deuchert10 nachgelesen werden.

Eindrucksvoll steht die Tat der Selbstauflösung der Altonaer Schule durch das Kollegium da (1938), eindrucksvoll aber auch der für die Wandsbeker Schule typische Versuch, bis zu allerletzt die Schule erhalten und den Dienst an den Kindern ausüben zu wollen. Die Tatsachen selber lehren uns, wie zurückhaltend mit dem Urteil man diesen schweren Schicksalsprüfungen gegenüber sein soll. Als Altona schloß, wurde ein Großteil der Schüler wieder in Wandsbek angemeldet. Denn vielen war praktizierte Waldorfpädagogik wichtiger als alles andere. Wer will über diesen Versuch richten?

Dann wurden plötzlich am 29. 9. 1939 sämtliche Lehrer von der Geheimen Staatspolizei zum Strafdienst in Bezugsscheinstellen abkommandiert. Gleichzeitig erhielten sämtliche Eltern die behördliche Mitteilung, daß sie ihre Kinder sofort in den zuständigen Bezirks-Volksschulen einzuschulen hätten. Eine Aufnahme dieser Kinder in Mittel- oder Oberschulen war verboten.

Am 18. März 1940 gab es dann, nachdem die Schule schon ein halbes Jahr geschlossen war, eine letzte Zusammenkunft in der Aula, wo Lehrer, Schüler und Eltern Abschied nahmen von der Schule, die ihnen so lieb und wert geworden war. Beim Lesen der Ansprachen, die damals gehalten wurden, ist man ergriffen von dem innigen Bewußtsein, das aus ihnen von dem Wesen der Schule und ihrer Aufgabe spricht. Gleichzeitig erstaunt man über den Mut, mit dem damals, unter der Knute der Machthaber, von den wahren, geistbestimmten Zielen des deutschen Volkes gesprochen wurde. Zuletzt sprach Heinz Müller. In seinen Worten lag eine geisteswache Stimmung angesichts der zu vollziehenden Aufgabe. Unter der Schwelle des Schulhauses ruhte der Grundstein mit dem Grundsteinspruch, den Rudolf Steiner der Schule noch vom Krankenlager gesandt hatte. Und in seiner Ansprache vollzog Heinz Müller etwas wie einen Schutz, eine Versiegelung dieses Untergrundes, der in den Jahren fruchtbarer Arbeit sich mit den Kräften des Umkreises verbunden hatte, der nicht ohne weiteren Schutz zurückbleiben durfte und der als Grund und Ziel für eine Zukunft bewahrt werden mußte.

"Sehr verehrte, liebe Eltern und Freunde!
Am Ende unseres Wirkens an dieser Stätte, die uns allen so liebgeworden ist, und von der wir jetzt schweren Herzens Abschied nehmen, wandern unsere Gedanken noch einmal zurück, um allen denen im Geiste zu begegnen, die hier gelebt und gearbeitet haben, die mit uns in frohen und ernsten Stunden verbunden gewesen sind. Eine große Anzahl derer, die zu unserer Schulgemeinschaft gehören, sind heute nicht unter uns, weil sie durch ihre Pflichten an anderen Orten gebunden sind. Wie mancher der früheren Schüler oder der Väter, der an der Front steht, denkt jetzt her zu uns; auch mancher unserer Kollegen sendet seine Gedanken in unseren Kreis. Sie alle, die im liebenden Herzen gedenken des Geistes, der hier walten und bewirken wollte, mögen sich jetzt mit uns vereinen, wenn wir auch die Menschenseelen bewußt in unsere Mitte bitten, die immer zu uns gehört haben und auch jetzt zu uns gehören, auch wenn sie schon vor Jahren den Weg in die Heimat des Menschengeistes beschritten. Zu Rudolf Steiner, unserem Lehrer, zu unseren Kollegen, Herrn Dr. Kändler, Herrn Haas, Herrn Schümann und Herrn Pries, zu den aus unserem Schüler- und Elternkreis auf dem Felde der Ehre gefallenen Freunden, zu dem ganzen, großen Kreise in jener höheren Welt mögen unsere Gedanken sich hinfinden, damit in dieser Stunde ein Band uns alle umschlinge.
In schicksalsdunkler Zeit begannen wir mit diesem Werke. Was Geisteskraft in Liebe und Geisteslicht in Güte erwirken konnte, dem war die Stätte geweiht, an der wir jetzt weilen. Nachdem in rauhen Stürmen der Anfangszeit unserer Arbeit der zarte Keim mehr als einmal zu verderben drohte, kam ein sommerlich leuchtendes Blühen, das uns reiche Frucht versprach. Dann aber überfiel uns viel zu schnell ein jähes, herbstliches Siechen und Welken, noch ein letztes, hoffnungsvolles Farbenglühen - aber da war am Michaelistage der Sommer endgültig vorbei; und mit des Winters Frost und Kälte schwand jede Hoffnung für die zarte Pflanze dahin. Doch eine Saat ist uns geblieben - wenige Körner leider erst, es hätten deren viele Tausende sein sollen! Diese Saat ruht in uns. Sie ruht in unseren Kindern. Möge sie einst keimen, wachsen und wirken als schaffende Weisheit, erstarkende Geistesmacht, sich offenbarendes Geistesleben.
Wir stehen heute am Anfang der Woche, die uns Tod und Auferstehung vor unser inneres Auge stellt. Möge Er, der der Welt und der Menschheit erst ihren Sinn verlieh durch Seinen Tod und dessen Überwindung, segnen und auferstehen lassen die Saat."11

Dann war die Schule äußerlich wie ausgelöscht, Schüler-, Lehrer- und Elternschaft verstreut. Getreu seinem Rudolf Steiner gegebenen Versprechen, für das Wohl der Lehrer Sorge zu tragen, unterstützte Hans Pohlmann die Lehrer, welche sonst lange Zeit ohne Einkünfte geblieben wären. Auf die Dauer aber konnte er die vielfältigen wirtschaftlichen Belastungen nicht tragen. Wegen der hohen Hypothekenzinslasten mußten Grundstück und Gebäude 1941 an den Staat verkauft werden. Sicherheits- und Hilfsdienst zogen ein.

Im Untergrund aber entwickelten die in Hamburg Verbliebenen eine rege Tätigkeit. Vor allem Dr. Paula Dieterich, die 1931 mit nach Altona gegangen war, gab vielfältigen privaten Waldorfunterricht. Als der Krieg endlich beendigt war, führte sie sofort Gespräche mit der englischen Militärregierung über die Zulassung der Anthroposophischen Gesellschaft und die Genehmigung der Waldorfschule.

Und so geschah das Wunder: die vor dem Kriege Getrennten vereinigten sich im Aufbau der neuen Schule. Da das Altonaer Gebäude völlig zerstört war, von Wandsbek aber immerhin Reste erhalten waren, begründete man die Wandsbeker Schule neu. Hatte Rudolf Steiner 1922 noch den Rat an Max Kändler gegeben, sich durch eine Namensgebung "Rudolf-Steiner-Schule" das Leben nicht unnötig zu erschweren und war es deshalb zur Bezeichnung "Goethe-Schule" gekommen, so wurde diesmal der eigentlich gewünschte Name Wirklichkeit. Am 8. Mai 1946 konnte die Wiedereröffnung gefeiert werden. Der Unterricht begann mit 270 Schülern in neun Klassen.

Was das bedeutete, kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Hamburg lag in Trümmern. Was vom Schulgebäude noch einigermaßen brauchbar war, diente als Notunterkunft für Wandsbeker Handwerksbetriebe. Deshalb gelang es nur allmählich, die Gebäude wieder für den Schulbetrieb freizubekommen. Das zog sich über Jahre hin. Aus dem riesigen Hamburger Trümmerfeld wurden von Eltern, Schülern und Lehrern Mauersteine geborgen und auf dem Schulhof gestapelt. Hans Pohlmann half wieder durch Materiallieferungen und Bereitstellung von Facharbeitern. Schließlich konnten neun Klassenräume notdürftig für den Unterricht hergerichtet werden. Die Ausstattung war primitiv. Bretter, auf Steinen gelagert, dienten als Bänke, Stühle aller Art wurden mitgebracht. Die "Epochenhefte" wurden aus dem unbedruckten Rand alter Zeitungen hergestellt.

"Die Begeisterung war groß. - Hunger nach Geist war spürbar nach der Zeit der Unterdrückung. Es kamen Eltern, die wollten eine Schule, wo Kinder "zu guten Menschen" erzogen werden und fragten nicht nach den Abiturmöglichkeiten wie heute. Bei etwa 250 zerstörten Schulgebäuden waren wir die erste Schule in Hamburg, die mit dem Unterricht wieder beginnen konnte." 12

Das Wachstum der Schule verlief stürmisch. 1948 hatte die Schule bereits 800 Schüler, im März 1951 machten die ersten Schüler das Abitur, und im Herbst 1951 gab es 25 Klassen mit 1036 Schülern.

Gegen diesen Zustand hatte die Behörde aus gesundheitspolitischen Gründen stärkste Bedenken. Sie forderte, ca. 250 Schüler an die staatlichen Bezirksschulen abzugeben, weil es nicht zu verantworten sei, über 1000 Schüler in den Ruinen zu unterrichten. Das führte zu dem Entschluß, im Westen der .Stadt nach einem Grundstück für eine zweite Schule zu suchen. Die Stadt war dabei behilflich und bot ein Villengrundstück in der Elbchaussee 366 an. In derselben Straße Nr. 101 hatte von 1931 bis 1938 die Rudolf-Steiner-Schule Altona gestanden. Durch äußerste Anstrengungen konnte hier die Gründung der Nienstedtener-Schule erfolgen. Damit erfüllten sich auch die Hoffnungen, in diesem Bezirk, in dem die Waldorfpädagogik fruchtbar gewirkt hatte, ein Aufgreifen ihrer Wirksamkeit zu erreichen. Brüderlich hatte man aus dem einen Verein, unter Einsatz des geringen gemeinsamen Vermögens, die Eröffnung der beiden Schulen ermöglicht. Eine Würdigung dieser glücklichen Entwicklung findet sich, in feiner Weise ausgesprochen, in den Worten eines Vorstandsmitgliedes Dr. Günther Goos zur Einweihung:

"Alle, die unsere Rudolf-Steiner-Schule so tatkräftig gefördert haben, mögen ihren Dank in dem Bewußtsein finden, daß die Schule in Nienstedten ihre Entstehung und ihr Leben dem gemeinschaftlichen Bemühen, dem gemeinsamen Beitrag und Opfer aller derer verdankt, die den Gedanken der Waldorfpädagogik Dr. Rudolf Steiners hier in Hamburg lebendig in sich tragen und nun wieder neu verwirklicht haben.12

Die Raumnot in Wandsbek wurde durch den Auszug der drei ersten Nienstedtener Klassen aber kaum gehindert. Als man nämlich an den Wiederaufbau der Ruine gehen wollte, stellte man fest, daß das Gebäude während der Kriegszeit weit größeren Schaden genommen hatte als vermutet. Die Schäden waren so gravierend, daß die Baubehörde eine sofortige Stillegung der Baustelle anordnete. Schüler und Lehrer durften das Gebäude nicht mehr betreten. Es wurde bis auf das Skelett der tragenden Stützen abgebrochen, im Grundriß verändert und außen mit gelben Klinkersteinen verblendet wiederaufgebaut. Diesen weiteren Einschränkungen wurde mit der Einführung von Schichtunterricht und dem Kauf einer Holzbaracke mit Raum für drei Klassen begegnet.

Am 15. September 1956 war dann die Einweihung für das neu erstandene Haupthaus. Dem sich sofort anschließenden Baubeginn des Zwölf-Klassentraktes entlang der Wandsbeker Allee fiel aber wiederum die Holzbaracke zum Opfer. Sie wurde vom Sozialwerk der Christengemeinschaft übernommen und diente dem Heim in Friedrichshulde als Festsaal. Der benötigte Schulraum wurde dann in einer Baracke in die Lydiastraße, etwa sieben Minuten Fußweg von der Schule entfernt, gefunden. Die Räume hatten bis dahin dem Wohnungsamt gehört und sollten eigentlich wegen Rattenverseuchung abgerissen werden. Auf drängende Bitte wurden sie aber der Schule überlassen. Unseren Hausmeister, Curt Dauskardt verbinden noch lebhafte Erinnerungen mit ihr:

"Die sah vielleicht aus! Die sollte eigentlich abgerissen werden, weil da so viele Ratten drin waren; aber dann haben sie gesagt: Gut, die Ratten werden wir verscheuchen mit unserem Getrampel, da wird es denen ungemütlich; also wurde alles herausgerissen und die Baracke umgebaut, neue Wände eingezogen usw. In jede Klasse wurde nun so ein kleiner Kanonenofen hineingestellt. Die mußten ja auch noch geheizt werden. Erstmal hatte ich hier beim Haupthaus den ganzen Laden - und dann mußte ich rüber! Da bin ich morgens um vier, halb fünf Uhr rüber; habe da geheizt, und da ging das los: Auf einmal die ganze Bude voll Qualm, ach, was ist denn nun bloß wieder? Da hatten die "Banditen"Turnschuhe ins Ofenrohr reingesteckt. Ein Qualm!
Wir gingen nun ewig hin und her mit den Stühlen, der sogenannte Stuhlgang, denn die Stühle reichten zum Teil nicht."13

Am 19. Juni 1958 war dann die Notzeit vorüber. Bis auf eine Turnhalle und die Lehrküche war der ehemalige räumliche Umfang der Schule wiederhergestellt. Und doch gab es zum Vorkriegsstand einen gravierenden Unterschied. Grundstück und Gebäude gehörten nicht mehr der Schule. Die Wiedergutmachungsverhandlungen mit der Stadt hatten sich als schwierig erwiesen. Für eine bauliche Wiederherstellung verlangte die Stadt einen Verzicht auf alle Ansprüche. Und da man angesichts der allgemeinen Wirtschaftslage den Aufbau aus eigenen Kräften ohnehin für unmöglich hielt, ging man lieber auf das Angebot eines unbegrenzten, unentgeltlichen Nutzungsrechtes im Vorkriegsumfang ein, als auf seinen Ansprüchen zu bestehen. Dadurch konnte man zwölf Jahre nach dem Neubeginn befreit von räumlichen Nöten arbeiten, hatte sich aber sowohl die Einflußnahme auf den Baustil als auch den Spielraum in der Entwicklung der Schule unter geänderten Bedingungen genommen, bzw. eingeschränkt. Obwohl sich dieser Umstand im Hinblick auf die später einsetzende Erweiterung der Schule als nachteilig erwies, muß man diesen Beschluß vor dem Hintergrund der katastrophalen Nachkriegszustände anerkennen. Schließlich war das verbliebene Vereinsvermögen in die zweite, sich ebenfalls noch im Aufbau befindliche Schule investiert worden, obwohl man nicht einmal den Kaufpreis im mit der Finanzbehörde vereinbarten Umfang leisten konnte.

"So entstand die peinliche Situation, daß wir die zweite Kaufrate nicht zahlen konnten. Der Canossagang des Geschäftsführers zur Finanzbehörde verlief aber glücklich. Der Vorschlag, jährlich DM 5000,- plus 5 % Zinsen zu zahlen, wurde schließlich akzeptiert und konnte von uns eingehalten werden."14

Nun konnte alle Kraft auf das Unterrichten gelegt werden. Es trat eine Zeit der Konsolidierung ein. Natürlich war auch sie nicht frei von Sorgen und Nöten. Rückblickend wurde sie von beteiligten Kollegen aber doch gern als die "goldene Zeit" nach dem Kriege bezeichnet. Dies bezog sich vor allem auf die Ausarbeitung des Lehrplanes, die von einigen Kollegen in außerordentlich souveräner Weise geleistet wurde. Kontinuierlich entstand das Bild einer beispielhaften zwölfklassigen Waldorfschule mit angegliederter Abiturvorbereitung. Die Schule war durchdrungen von einer intensiven, dankbaren Arbeitsstimmung, das künstlerische Element lebte in glücklicher Entfaltung.

Zu den Feiern begegnete sich in der Aula eine Schulgemeinschaft, die gemütvolle Lebensformen in überschaubarer Gliederung pflegte. Heinz Müller ließ durch viele Ansprachen auch die Zeit der Goethe-Schule und die persönliche Begegnung mit Rudolf Steiner den Schülern immer wieder lebendig werden. Kann man die Zeit der Goethe-Schule als ersten großen Abschnitt der Schulentwicklung ansehen, so ist die Zeit des Wiederaufbaues und das sich anschließende Arbeiten nach innen der zweite. Das Nachkriegsleben hatte sich in wunderbar metamorphosierter Weise aus der Gründung heraus entwickelt. Die Wunden der Vergangenheit waren geschlossen und heilten durch ein herzliches Verhältnis zwischen den Kollegien.

Nur ein Bereich des Schullebens hatte seine eigentümliche Gestaltung aus der Gründerzeit unverwandelt behalten. Das war die Gestaltung der Schulgemeinschaft, wie sie sich aus der Satzung ergab. Nach dem Krieg war die Form des Gründervereins unverändert aufgegriffen worden. Zwar wurden seine Bindungen nicht mehr so zwingend empfunden wie ehedem, hatten sie sich aus der persönlichen Kongruenz doch längst gelöst. Immerhin besorgte aber ein gemeinsamer Vorstand - ausgestattet mit der Gestaltungskompetenz des Gründervorstandes - die Verantwortung für zwei Schulen. Das konnte auf die Dauer nicht den Lebensbedürfnissen entsprechen. Es dauerte dennoch sehr lange, bis sich hier eine Änderung ergab.

Der Zeitpunkt für diese Änderung hängt mit dem bedeutsamen Einschnitt zusammen, der weltumspannend für die geistige Entwicklung seit Mitte der 60er Jahre eintrat. Das Zeitinteresse, die Suche nach geistiger Orientierung, pochte an das Tor der Waldorfschule, und auf einmal begann eine Phase neuer Initiative. Jetzt entstand eigentlich erst, was wir als das Ideal einer Schulgemeinschaft aus Lehrern, Eltern und Schülern bezeichnen. Es entstand das gemeinsame starke Bedürfnis, sich an der Schulträgerschaft rückhaltlos zu beteiligen. In diese Zeit paßte nicht mehr der alte Schutzgestus des Gründervereins. Mit der Hilfe Ernst Weißerts konnte der fällige Schritt 1970 vollzogen werden. Es entstanden eigenständige Schulvereine aus gleichen, stimmberechtigten Mitgliedern mit Vorständen aus vier gewählten Elternvertretern und von drei vom Kollegium delegierten Lehrern. Dieser Schritt erwies sich in der Folge für beide Schulen als sehr segensreich. Für Wandsbek war es, als sei ein Gordischer Knoten durchschlagen worden. Es war Raum geöffnet worden für einen neuen Lebensabschnitt der Schule.

Die neuen Entwicklungsanstöße drängten vor allem durch die Kinder heran. Der Anmeldedruck nahm unaufhörlich zu, und es trat die Frage auf, wie man ihm begegnen sollte. 1972, zum 50jährigen Bestehen der Schule, wurden dann zwei Entscheidungen gleichzeitig verwirklicht. Ein Kindergarten mit zwei Gruppen wurde eingerichtet und der Ausbau der Schule zur Zweizügigkeit begonnen. Charakteristisch für die Entwicklung, die jetzt eintrat, war, daß sie ganz ins Ungewisse ging. Zwar gab es ausgedehnte Beratungsphasen, wie die künftige Schule aussehen sollte, wie die Zweizügigkeit gegriffen und strukturiert, die bauliche Gestalt verwirklicht werden sollte. Doch all das konnte zunächst nur orientierenden Sinn haben. Was zählte, war zunächst immer nur der nächste kleine Schritt, die Form mußte "lebend sich entwickeln". Oft wurde die Entscheidung zur Zweizügigkeit wieder in Frage gestellt. Die Rückkehr zur Einzügigkeit wurde aber schon dadurch unmöglich, daß Kollegium und Elternschaft unter keinen Umständen eine Teilung in zwei Schulen wollten. Es gab manchen Kollegen, der die Aussicht auf eine erträgliche Zukunft für hoffnungslos hielt und günstigere Voraussetzungen für seine Arbeit an anderem Ort suchte.

Die Zustände wurden aber auch immer schwieriger. Die Schulräume reichten schon bald nicht mehr aus. Daraufhin wurde jenseits der Wandsbeker Allee, einer der verkehrsreichsten Straßen Hamburgs, "Pavillonien" eingerichtet. Von nun an lebten einige Klassen, getrennt durch die große Straße, auf der anderen Seite der Allee. Vier Klassen wurden so untergebracht. Als auch dieser Raum nicht mehr reichte, errichtete man auf einem dritten Grundstück, von den anderen durch die Wandse getrennt, einen weiteren Pavillon. In ihm wurden ebenfalls vier Klassen untergebracht. Für die folgenden vier Jahre mußten dann noch einmal vier Räume in einer staatlichen Schule gemietet werden. Die Aula war für die Schülerschaft längst zu klein geworden. Gemeinsame Feiern waren nicht mehr möglich. Monatsfeiern, Weihnachtsspiele usw. mußten zweifach durchgeführt werden. Das Schulleben drohte zu zersplittern. Die Pausenordnung mußte geändert, die kürzesten Pausen auf zehn Minuten ausgedehnt werden, damit Lehrer und Schüler überhaupt rechtzeitig die Unterrichtsräume erreichen konnten. Und doch sind in dieser schweren Zeit keine Abstriche am Lehrplan gemacht worden. Vielmehr wurde der handwerklich-künstlerische Unterricht kräftig ausgeweitet und eine Reihe wichtiger neuer Initiativen ergriffen.

In Volksdorf-Bergstedt hatte sich eine Schulgründungsinitiative gebildet, die von Wandsbeker Lehrern, vor allem Helmut Eller, betreut wurde. 1974 wurde die erste Bergstedter Klasse als Gastklasse in Wandsbek aufgenommen, 1975 folgte die zweite. In diesem Jahr gab es in Wandsbek drei erste Klassen. 1976 konnte dann mit Helmut Eller als Gründungslehrer die Bergstedter Schule eröffnet werden. Am Anfang fuhren noch einige Wandsbeker Kollegen die nicht ganz kurze Strecke hin und her, um den Fachunterricht mit zu versorgen. Die Zeit der Patenschaft verlief einträchtig und unproblematisch. Doch die eigenen Fragen, denen sich das Kollegium gegenübersah, nahmen zu. Immer drängender wurde die Suche nach Lebensformen, welche das Schulleben in fruchtbarer Weise stützen konnten. Viele Kollegen begegneten sich nur noch in den wöchentlichen Konferenzen. Ein Lehrerzimmer im eigentlichen Sinn gab es nicht mehr. Und doch wurde nie das Heil in der Auferlegung von starren Formen gesucht. Die organisatorische Aufgliederung in A- und B-Zug lehnte man ab, über die Konferenzordnung wurde immer wieder gesprochen. Großer Wert wurde auf die geschmeidige Ablösung bei Ämtern und Delegationen gelegt. Die Bereitschaft, aufeinander zu hören und zur Einmütigkeit zu finden, war immer vorhanden. Alles blieb sehr im Fluß. Manchmal trat die Frage auf, ob die Dinge, über eine wünschenswerte Offenheit hinaus, nicht zu sehr ins Schwimmen gerieten. Immer aber wurde auf das Bemühen um eine Tugend besonderer Wert gelegt: die Toleranz. Wenn es in dieser Phase der Schulbiographie ohne größeren Streit abging und hinwirkend zu den anderen Schulen ein immer engeres, vertrauteres Verhältnis der Zusammenarbeit entstand, dann war das im besonderen die Leistung von Helga Sewering, die bis zu ihrem Tode 1982 in allen Prüfungen mit sozialer Phantasie und innerer Stärke Hilfe gab. In dieser Zeit entwickelte sich auch im Verhältnis zu den Schülern manches Neue. In der Oberstufe fand sich eine zunehmende Bereitschaft, sich den neuen Erkenntnisansätzen des Unterrichts zu öffnen und die Fixierung auf tradierte Lehrmeinungen zu vergessen. Gerade für künstlerische Unterrichtsansätze - ganz gleich in welchem Fach - zeigten sich die Schüler sehr zugänglich.

Die Arbeit mit den Eltern und einer interessierten Öffentlichkeit an pädagogischen Fragen intensivierte sich. Eine Fülle künstlerischer Kurse und mindestens ein großes "Pädagogisches Wochenende" pro Jahr mit seminaristischer Arbeit, Vorträgen, künstlerischen Kursen und Darbietungen wurde veranstaltet. Dazu trat die gesprächsintensive Begegnung in den Eltern-Lehrer-Konferenzen, die Bildung eines Baukreises. Kollegium und Vorstand begannen sich mit der Wahl eines Architekten zu beschäftigen. Man ging davon aus, daß die Stadt sich dem öffentlichen Interesse der Schule gegenüber nicht verschließen könne. Auch wollte man unbeschadet der seinerzeit aufgegebenen Wiedergutmachungsansprüche mit der Stadt in neuerliche Verhandlungen eintreten. Schließlich hatte auch die städtebauliche Entwicklung einen Ausbau unter zumutbaren Bedingungen verhindert. Mit diesen Argumenten hoffte man, die Verweigerung von staatlichen Investitionszuschüssen überwinden und auf dem Pavillongelände einen Neubau errichten zu können. All diese Hoffnungen zerrannen in nichts, als der Ankauf von bestimmten, noch fehlenden Grundstücksparzellen sich als unmöglich erwies und ein Lokaltermin mit der Schulbehörde ergab, daß die Stadt sich angesichts rückläufiger Schülerzahlen und zu erwartender leerstehender Schulgebäude außerstande sähe, für einen Neubau der Rudolf-Steiner-Schule Mittel im Haushalt bereitzustellen. Allenfalls käme die Überlassung eines frei werdenden Schulgebäudes in Frage.

Dieser Sturz ins Nichts brachte den qualitativen Sprung, der für eine positive Entwicklung notwendig war. Nach lebhaften Beratungen faßte die Gemeinschaft der Eltern und Lehrer ohne die Aussicht auf irgendein konkretes Projekt den Beschluß, mit dem Ansparen einer Bauumlage zu beginnen. Es fiel nicht leicht, sich ohne die befeuernde Wirkung eines konkretisierbaren Anreizes zu monatlichen Zahlungen zu verpflichten. Aber gerade durch diese Willensqualität, im festen Vertrauen auf eine ganz und gar im Ungewissen liegende Zukunft den Bau der Schule zu beschließen, wurde das Werk erst möglich. Der weitere Weg war nicht ohne Hindernisse. Darüber mag im Baubericht nachgelesen werden. Für die Schulentwicklung signifikant war der eine Augenblick, als sie für kurze Zeit in Gefahr war, sich untreu zu werden. Aus politischer Vorsicht wollte die Behörde den Verhandlungskreis des Vorstandes auf Stillschweigen über ein bestimmtes Verhandlungsobjekt dem Kollegium gegenüber verpflichten. Der zukünftige Schulort sollte ohne die Meinungsbildung des Kollegiums festgelegt werden. Nachdem die sich hier anschließende Auseinandersetzung über die Selbstverwaltungskompetenz des Kollegiums und die Bewertung des Angebotes (es wurde abgelehnt) mit beratender Hilfe des Bundes der Freien Waldorfschulen glücklich bestanden war, ging es mitunter stürmisch, aber doch zielgerichtet auf die heutige Lösung zu.

Obwohl die Bauvorbereitung vielfältige Kräfte in Anspruch nahm, gab es zunehmende Aktivitäten auch auf anderem Felde. Die Arbeit in den Umkreis steigerte sich. Das größte Vorhaben war 1981 die Einrichtung der dritten Sommertagung des Bundes in Hamburg. Aus dem Zusammenwirken der inzwischen vier Hamburger Waldorfschulen konnte dies getragen werden. Auch auf anderen Gebieten machte die regionale Zusammenarbeit gute Fortschritte. Verhandlungskreis, gemeinsame Vorstandssitzungen, Regionalkonferenzen und gemeinsame Konferenztage der Kollegien sind Ausdruck dieser Entwicklung. Eine schulnahe Lehrerausbildung geschieht seit acht Jahren durch den gemeinsamen berufsbegleitenden Lehrerkurs. Eine wesentliche Bereicherung des Schullebens geschah durch die Aktivität der Elternschaft. Eine erste, in neuer Weise auftretende Gruppe gab sich selber die Bezeichnung "Elterninitiative". Später übertrug sich dieser Name als Qualität auf nahezu die gesamte Elternschaft. Durch ihren unglaublichen Einsatz konnte der Neubau letzten Endes erst geschafft werden.

Und so erfüllt sich eine gewisse Entwicklungslinie der Schulbiographie. Drei Phasen sind es, die in ihr deutlich unterschieden werden können. Die beiden ersten sind die Gründerzeit und der Wiederaufbau mit anschließender Konsolidierung. Die dritte beginnt um 1970, bildet die neue Schulgemeinschaft und schafft in Fortsetzung des Gründungsimpulses von Hans Pohlmann und Max Kändler die ersehnte ausgebaute Schulgestalt.

Betrachtet man die Geschichte der Schule, so gibt es Aufgaben, die wiederholt auf ihre Bewältigung pochen. Aus ihrer Wiederholung könnte man auf bestimmende Züge dieser Schulindividualität schließen. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man aber, daß dieselbe Aufgabe niemals dieselbe ist und daß sie auch niemals auf dieselbe Art gestellt ist. Was sich als Schulgestalt bilden möchte, kann sich nur als Prozeß bilden. Sie ist dabei angewiesen auf die guten Kräfte derjenigen, die an ihr wirken. So tritt wirkliche Entwicklung ein. Und man kann gespannt sein, welche Aufgaben der Schule nun, nach der Schaffung ihrer Behausung, als Menschengemeinschaft gestellt sind. Gewiß ist es die Suche nach den Lebensformen, die eine segensreiche pädagogische Arbeit ermöglichen, ein Arbeiten nach innen, nachdem der äußere Bau vollbracht ist. Und gewiß ist es auch eine Suche nach den Quellen, aus denen ein schöpferischer Unterricht erfließen kann, auf daß Wirklichkiet werde:

Lebendig werdende Wissenschaft,

lebendig werdende Kunst,

lebendig werdende Religion.

Als Heinz Müller an Rudolf Steiner die Frage nach dem Genius loci richtete (er konnte mit Matthias Claudius, dem "Wandsbeker Boten" nicht viel anfangen) erhielt er den Hinweis auf das Wirken Tycho Brahes, des Astronomen, der im 16. Jahrhundert im Wandsbeker Schloß seine Himmelsbeobachtungen nur 500 Meter vom Schulort entfernt gemacht hat. Während unserer letzten Weihnachtsfeier, die eine Abschiedsfeier vom alten Schulort war, fügte Ilse Birnstein dem in sehr feiner Weise hinzu, daß ihr neben der königlichen Stimmung des Umkreises Tycho Brahes doch auch immer der andere Wandsbeker - Matthias Claudius - gültig für die Wandsbeker Schule gewesen zu sein schiene. Das Königliche Tycho Brahes und die Hirtenstimmung um Matthias Claudius empfände sie als die zwei Elemente, mit denen Wandsbek durch das Wirken dieser beiden Persönlichkeiten verbunden sei.

Mögen Hirtenstimmung und königliches Leuchten auch künftig mit der Wandsbeker Schule verbunden sein.

Erfüllen möchten wir uns vor allem aber mit Dank. Dank den Taten, Siegen und Niederlagen der Freunde gegenüber, die an diesem Schulwerk von Anfang an gebaut haben. Wir fühlen uns getragen durch ihr Wirken. Und wir empfinden in uns Dank den Schicksalsmächten gegenüber, die in allen Lebensaugenblicken der Schule durch ihr Antlitz haben leuchten lassen: Den Menschen in seiner wahren, göttlichen Gestalt, dessen Dienst wir uns in Ehrfurcht und Liebe anschließen möchten denjenigen, die uns vorangegangen sind.

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Mit freundlicher Genehmigung:
des Autors: Hartwig Schiller
des Herausgebers: Bund der Freien Waldorfschulen e.V., Stuttgart, aus "Erziehungskunst Heft 1985 - 2"
des J. H. Mellinger Verlages, aus: Heinz Müller, "Spuren auf dem Weg"

Fußnoten
1 Ilse Kändler-Rolofs: "Von der Entstehung der Goethe-Schule in Hamburg". Bericht zur 50-Jahr-Feier 1972. Nach einem Manuskript.
2 Dietrich Steinmann: "Erinnerungen eines Lehrers aus der Goetheschulzeit". Mitteilungsblatt der Rudolf Steiner Schule Wandsbek. Juni 1982
3 Ilse Kändler-Rolofs: a. a. O., ergänzt durch eine Äußerung zum Englischunterricht aus ihrem Aufsatz: Ein Weg zur Heileurythmie
4 Zit. aus: Heinz Müller, "Spuren auf dem Weg, Erinnerungen", J. Ch. Meilinger Verlag, Stuttgart
5 Ilse Kändler-Rolofs, a. a. O.
6 Das Kollegium bildeten: Otto Altemüller, Dr. Franz Brumberg, Dr. Paula Dieterich, Gertrud Jasper, Dr. Max Kändler, Lucie Kralernann, Dr. Fritz Kübler, Henny Lemcke, Heinz Müller, Dr. Merz, Beatrice Müller, Ilse Prieß-Kändler, Olga Schwandt, Robert Sobeczko, Dietrich Steinmann, Dr. Hans Theberath, Senta Übelacker, die Schulärzte Dr. Thylmann und Dr. Solti, der Sekretär Heider Prieß und als Hausmeister M. Stange
7 Ilse Kändler-Rolofs, a. a. O.
8 zitiert nach Ernst Wüst, "Zur Geschichte der Waldorfschulen in Hamburg." (Unveröffentlichtes Manuskript)
9 Stefan Leber / Manfred Leist, "Waldorfschule im Dritten Reich" in "Erziehungskunst" 6 und 7-8/1984, S. 341 und 409. Dies. "Notwendige Bemerkungen zum Beitrag Waldorfschulen im Nationalsozialismus". "Neue Sammlung", Heft 1/1984
10 N. Deuchert, "Zur Geschichte der Waldorfschule 1933-1940"; in: Berichtsheft des Bundes der Freien Waldorfschulen, Advent 1984
11 zitiert aus den Schulmitteilungen vom Mai 1972
12 Ernst Wüst, a. a. O. (Als Prokurist in der Firma Hans Pohlmanns und Anthroposoph hatte sich Ernst Wüst der Schule von 1946 bis 1970 als hauptamtlicher Geschäftsführer zur Verfügung gestellt und Wesentliches zum Wiederaufbau der Schule geleistet. Er starb 1972)
13 Aus einem Gespräch mit Curt Dauskardt, abgedruckt in den Schulmitteilungen, Juni 1982.
14 Ernst Wüst, a. a. O.